Polen: Nation ohne Staat

Polen: Nation ohne Staat
Polen: Nation ohne Staat
 
Die Polen hatten sich nach dem Untergang der Adelsrepublik am Ausgang des 18. Jahrhunderts mit dem Schicksal einer geteilten Nation abzufinden. Erst am Ende des Ersten Weltkriegs sollte es ihnen wieder vergönnt sein, die Mehrheit der polnischsprachigen Bevölkerung in einem souveränen Staat zusammenzuführen.
 
Freiheit und Einheit wieder zu gewinnen, wurde im heraufziehenden Zeitalter des Völkerfrühlings zum vorrangigen Ziel der Polen. Ihm hatten sich alle patriotischen Kräfte verschrieben. In seiner Hymne »Noch ist Polen nicht verloren, solange wir leben« fasste der Publizist Józef Wybicki 1797 die Freiheitssehnsucht in einprägsame Worte. Das Revolutionslied weckte mit seiner dem Nationaltanz Mazurka nachempfundenen Melodie in der Jugend Polens die Begeisterung für den heroischen Aktivismus der Vaterlandsverteidiger und wurde nach dem Ersten Weltkrieg von der neu gegründeten Republik Polen zur Nationalhymne erklärt.
 
 Herzogtum Warschau
 
Trotz herber Enttäuschungen über die zaghafte Polenpolitik Frankreichs blieb den Aktivisten in der polnischen Emigration unter den gegebenen machtpolitischen Verhältnissen in Europa keine andere Alternative als ein Zusammengehen mit Napoleon I.
 
Hoffnungen auf ein größeres Entgegenkommen weckte der militärische Konflikt zwischen Frankreich und Preußen im Jahre 1806. Der anschließende Friede von Tilsit 1807 trennte aus den preußischen Teilungsgebieten ein eigenständiges Herzogtum Warschau ab. Preußen behielt nur noch Westpreußen und das Ermland. Danzig wurde zur Freien Stadt, und der Bezirk von Białystok fiel an Russland. Mit Rücksicht auf seinen russischen Verhandlungspartner verzichtete Napoleon zwar für das neue Staatsgebilde auf den Namen Polen, doch stellte er in der Person des zum Herzog bestimmten Friedrich August I. von Sachsen den unmittelbaren Rückbezug auf das alte Polen und auf die Maiverfassung des Jahres 1791 her.
 
Napoleon vermied tunlichst eine Wiederbelebung der polnischen Adelsrepublik. Er verordnete eine zentralistische Verfassung, die dem Monarchen eine nahezu unbeschränkte Machtbefugnis beließ und dem Zweikammerparlament aus Senat und Sejm nur ein geringes Mitspracherecht einräumte. Eine dem französischen Beispiel folgende Departementeinteilung und die Einführung des Code Napoléon verhinderten jegliche Erneuerung polnischer Staats- und Rechtstraditionen. Die Verpflichtung zur Rekrutengestellung und die finanziellen Auflagen, die mittels Steuer- und Abgabenerhöhungen finanziert werden mussten, stellten die Loyalität der etwa 2,6 Millionen Einwohner des Herzogtums zu ihrem französischen Gönner auf eine harte Probe. Der untertänigen bäuerlichen Bevölkerung bescherte Napoleon wohl die persönliche Freiheit, aber ohne ausreichende Landzuteilung lieferte er sie weitgehend schutzlos als billige Arbeitskräfte den adligen Grundbesitzern aus.
 
Noch enttäuschender endete der Russlandfeldzug Napoleons 1812. Der Reichstag in Warschau hatte ihn unter dem Präsidenten Adam Kazimierz Czartoryski als Auftakt zur Wiedergeburt Polens begrüßt. Annähernd 100000 polnische Soldaten kämpften in der Grande Armée und folgten Napoleon bis zum bitteren Untergang.
 
Die »4. Teilung« Polens
 
Am 8. Februar 1813 waren die nachrückenden russischen Truppen in Warschau eingezogen. Das Schicksal Polens lag nunmehr in der Hand des russischen Kaisers. Alexander I. hatte schon als Thronfolger die Bereitschaft zu einer großzügigen Lösung der Polenfrage erkennen lassen. Gemeinsam mit gleich gesinnten adligen Jugendfreunden hatte er Pläne für eine föderative Umgestaltung des Russischen Reichs geschmiedet. Mit Adam Jerzy Czartoryski, dem Abkömmling der einflussreichen polnischen Fürstenfamilie, der seit 1795 am russischen Hof weilte, verband ihn eine enge Freundschaft. Ihm vertraute er nach seiner Regierungsübernahme die Führung der außenpolitischen Geschäfte an. 1803 berief er ihn zum Kurator des Schulwesens in den russischen Westgebieten und eröffnete ihm die Möglichkeit, ein nationalpolnisches Kulturprogramm umzusetzen. Czartoryski blieb auch nach seiner Abberufung als Außenminister 1806 ein enger Berater Alexanders I. und wirkte nach der Besetzung des Herzogtums Warschau maßgeblich am Aufbau einer neuen Verwaltung mit. Auf dem Wiener Kongress 1814/15 wurde er zu den langwierigen und schwierigen Verhandlungen, in denen zwischen den Verbündeten um eine Lösung der polnischen Frage gerungen wurde, als Sachverständiger hinzugezogen.
 
Leidtragende der ausgehandelten Kompromisslösung waren in gleicher Weise die Polen und die Sachsen. Den polnischen Patrioten blieb nur der schwache Trost, dass sich die Teilungsmächte verpflichteten, eine Repräsentation und nationale polnische Institutionen in ihren Teilungsgebieten zuzulassen und den freien Warenverkehr über die Grenzen hinweg nicht zu behindern. Außerdem wurde für alle Polen, die im napoleonischen Heer gekämpft hatten, eine Generalamnestie erlassen. Eine Rücknahme der Teilungen war im Zeichen der Heiligen Allianz, zu der sich die Monarchen der Teilungsmächte zusammengeschlossen hatten, und der Gleichgewichtspolitik der europäischen Pentarchie nicht mehr zu erwarten. Abgesehen von der Auflösung des Freistaats Krakau 1846 sind die Grenzziehungen des Jahres 1815 bis zur Wiedererstehung des polnischen Nationalstaats im 20. Jahrhundert nicht mehr verändert worden. Die Wiener Beschlüsse werden von den Polen als »4. Teilung« ihres Landes gewertet.
 
 
Der Löwenanteil am Herzogtum Warschau mit 128500 km2 von rund 150000 km2 fiel an Kaiser Alexander I. Er ließ am 20. Juni 1815 ein Königreich Polen — auch Zartum Polen oder Kongresspolen genannt — in Personalunion mit Russland proklamieren. Am 27. November 1815 unterzeichnete er als der neue polnische König in Warschau eine Verfassung, in der er den Polen eigene politische Institutionen und die polnische Staatssprache zugestand, sich aber die volle Exekutivgewalt, die Gesetzgebungsinitiative und ein absolutes Vetorecht vorbehielt.
 
Unter den neuen Voraussetzungen fiel der weiterhin tonangebenden polnischen Adelsnation zwangsläufig die Aufgabe zu, die Belange der ganzen geteilten Nation mitzubedenken. Der adlige Patriotismus gab einen guten Nährboden für eine Nationalbewegung ab, die sich eine Wiederherstellung des polnischen Staats in den alten Grenzen zum Ziel setzte. Der Missmut der polnischen Bevölkerung über die russische Bevormundung äußerte sich zunächst vereinzelt auf den Reichstagen und mündete schließlich in geheimbündlerischen Aktivitäten unter den Offizieren und in der studentischen Jugend. Die Wortführer der nationalen Bewegung waren auch durch die günstigen wirtschaftlichen Entwicklungschancen, die der russische Markt perspektivisch bot, nicht mehr für einen evolutionären Weg und eine Aussöhnung mit dem russischen Zarismus zu gewinnen. Ungeachtet der erkennbaren Verbesserungen der wirtschaftlichen Infrastruktur und des Bildungsangebots — das Volksschulwesen wurde ausgebaut sowie die Universität in Warschau und die Hochschulen für Bergbau und Forstwirtschaft in Kielce wurden gegründet — gewannen die radikalen Kräfte die Oberhand. Sie entschieden sich für eine gewaltsame Lösung der polnischen Frage.
 
Der Novemberaufstand 1830/31
 
Der Aufstand in Warschau war nicht von langer Hand vorbereitet. Es fehlte von Anfang an eine Abstimmung der Einzelaktionen, und die beteiligten Gruppierungen verfolgten erheblich voneinander abweichende Ziele. Schon der Auftakt am 29. November 1830, der Anschlag einer jugendlichen Verschwörergruppe auf die Residenz des Großfürsten Konstantin Pawlowitsch im Schloss Belvedere, misslang. Der Statthalter des Zaren entschloss sich, Warschau vorerst den Aufständischen zu überlassen. In den weiteren Verlauf der Auseinandersetzungen schaltete sich die polnische Regierung unter Fürst Czartoryski vermittelnd ein, um eine Verhandlungslösung zu erreichen. Die Bemühungen scheiterten am Einspruch Kaiser Nikolaus' I. und am Widerstand der aufgeputschten Massen.
 
Die radikalen demokratischen Kräfte setzten auf die völlige Unabhängigkeit Polens. Sie erzwangen am 25. Januar 1831 einen Reichstagsbeschluss, der der Dynastie der Romanows die polnischen Thronrechte aberkannte. Der brüskierte Kaiser verhängte den Kriegszustand und ließ unter Feldmarschall Johann Graf Diebitsch zahlenmäßig überlegene russische Truppen einmarschieren. Die neu gebildete Nationalregierung unter dem Präsidenten Czartoryski und dem Führer des bürgerlich-demokratischen Flügels, Joachim Lelewel, konnte die militärische Niederlage nicht mehr abwenden.
 
Nikolaus I. rechnete unnachsichtig mit den Rädelsführern des Aufstands ab. Sie wurden meist in Abwesenheit zum Tode verurteilt und verloren durch Güterkonfiskationen ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage. Am 22. Februar 1832 löste das Organische Statut des Königreichs Polen die Verfassung von 1815 ab. Es nahm den Polen die noch verbliebenen Reste einer nationalen Eigenständigkeit und übertrug dem neuen Statthalter Iwan Fjodorowitsch Paskewitsch diktatorische Vollmachten. Seit März 1833 herrschte über zwei Jahrzehnte hinweg wegen der anhaltenden Partisanentätigkeit der Ausnahmezustand. Der Reichstag und das polnische Heer wurden aufgelöst und die Ressortminister zu Hauptdirektoren herabgestuft. Russische Beamte rückten in leitende Ämter ein. Sie beförderten eine Angleichung des gesamten Verwaltungssystems an russische Vorbilder und eine schleichende Russifizierung.
 
Noch rigoroser verfuhr der Kaiser in den westlichen Gouvernements. Er verschärfte den Russifizierungsdruck und verbot die Verwendung der polnischen Sprache bei Gericht und in den Schulen. Er ließ polnische Kleinadelsfamilien zwangsweise in den Kaukasus und nach Sibirien umsiedeln und verordnete die gewaltsame Rückführung der unierten polnischen Christen zur Orthodoxie.
 
Die »Große Emigration«
 
Die Mehrheit der Aufständischen hatte sich durch die Flucht dem drohenden Strafgericht entzogen und im westlichen Europa Schutz und Hilfe gesucht. Im polnischen Emigrantenzentrum Paris sammelte sich die intellektuelle Elite der Patrioten aus den verschiedensten Parteiungen. In der französischen Hauptstadt wirkten unter anderen die nationalen Dichter und Verkünder des polnischen Messianismus Adam Mickiewicz, Juliusz Słowacki und Zygmunt Krasiński sowie der Komponist und Pianist Fryderyk Chopin. Als Führer der Demokraten, der »Roten«, setzte sich bis zu seiner Ausweisung nach Brüssel 1833 der frühere Wilnaer Professor Joachim Lelewel für die nationale Sache ein. Haupt der aristokratischen Partei, der »Weißen«, war der alternde Fürst Adam Jerzy Czartoryski, der 1838 zum »König« gewählt wurde. Von seiner Residenz im Hôtel Lambert aus knüpfte er seine diplomatischen Fäden über ganz Europa.
 
Mit dem Auftritt polnischer Vertreter auf dem Hambacher Fest 1832 erlebte der polnische Novemberaufstand ein viel beachtetes öffentliches Nachspiel. Als Kronzeugen gegen das zaristische Polizeiregime genossen die polnischen Flüchtlinge eine große Publizität, und zahlreiche Polenlieder feierten ihren Heldenmut.
 
Nach der Niederschlagung des Novemberaufstands waren die österreichischen und preußischen Behörden um Schadensbegrenzung bemüht. Im Großherzogtum Posen wurde der polnische Statthalter Antoni Henryk Fürst Radziwiłłabberufen und unter dem Oberpräsidenten Eduard Heinrich von Flottwell 1830 bis 1841 eine Änderung der Polenpolitik eingeleitet. Sie richtete sich gegen Adel und Geistlichkeit und strebte langfristig eine Stärkung des deutschen Elements durch den Aufkauf verschuldeter polnischer Güter und eine Bevorzugung deutscher Besitzer und bäuerlicher Siedler an. Im »Mischehenstreit« schreckte man 1839 selbst vor einer vorübergehenden Inhaftierung des Erzbischofs von Gnesen-Posen nicht zurück. Erst unter dem neuen preußischen König Friedrich Wilhelm IV. setzte sich wieder ein versöhnlicherer Kurs durch.
 
Der König änderte diesen Kurs 1846, als im polenfreundlicheren Klima Posens erneut Pläne für einen Aufstand in allen Teilungsgebieten geschmiedet wurden. Der als Oberbefehlshaber vorgesehene Ludwik Mierosławski wurde am 12. Februar 1846 verhaftet und zusammen mit 254 Gesinnungsgenossen 1847 im »Polenprozess« vor dem Staatsgerichtshof in Berlin angeklagt und abgeurteilt. Einen Aufstandsversuch in der Republik Krakau erstickten einrückende österreichische Truppen im Keim. Nach dem gemeinsamen Beschluss der Teilungsmächte wurde die Republik Krakau aufgelöst und das Gebiet am 16. November 1846 dem österreichischen Kronland Galizien einverleibt.
 
 Januaraufstand 1863/64
 
Die Polenfrage verschwand nach 1848 vorübergehend von der Tagesordnung der großen Politik. Es waren die Polen selbst, die sich ein Jahrzehnt später unüberhörbar zurückmeldeten. Als Wortführer des reformorientierten und kooperationsbereiten Adels trat besonders der Marquis Alexander Wielopolski hervor. Sein Reformprogramm sah unter anderem eine Ablösung der bäuerlichen Dienstleistungen an die Gutsherren durch Zinszahlungen und die Emanzipation der Juden vor. Entschiedene Gegner dieses evolutionären Weges waren die »Demokraten« oder »Roten«, die ihren Anhang unter der studentischen Jugend sowie in den Kreisen des verarmten Adels und des städtischen Kleinbürgertums hatten. Sie riefen zu nationalen Kundgebungen auf und riskierten gezielte Provokationen der Polizei.
 
Ihre Führung entschloss sich zum vorzeitigen Losschlagen, als Wielopolski im Januar 1863 Zwangsrekrutierungen anordnete. Für einen offenen Schlagabtausch mit der russischen Militärmacht waren die Aufständischen nur unzureichend gerüstet. Sie mussten sich auf eine lokal begrenzte Partisanentätigkeit beschränken. Die Intervention der Westmächte und Österreichs zugunsten der Polen ab April 1863 brachte nicht die erhoffte Wende. Preußen hatte auf Drängen seines Ministerpräsidenten Otto von Bismarck allen polnischen nationalen Ambitionen eine unmissverständliche Absage erteilt und sich schon am 8. Februar 1863 in der alvenslebenschen Konvention auf ein militärisches Zusammenwirken mit Russland verständigt.
 
Der gescheiterte Aufstandsversuch im russischen Teilungsgebiet hatte für die Polen fatale Folgen. Die Sieger übten harte Vergeltung. Sie verhängten Todesurteile und langjährige Zwangsarbeit, verfügten Deportationen und Güterkonfiskationen. Die Bodenreform vom 3. März 1864 zwang die adligen Grundbesitzer, ihren Bauern das Nutzungsland zum persönlichen Eigentum zu überlassen und auch landlose Instleute bei der Landzuteilung zu berücksichtigen. Eine konsequente Russifizierungspolitik raubte den Polen im Königreich die bisherigen zentralen Institutionen und Selbstverwaltungseinrichtungen. Selbst der Name Polen verschwand aus dem amtlichen Sprachgebrauch. Das Territorium des Königreichs Polen wurde zum »Weichselland« beziehungsweise zu den »Weichselgouvernements« umbenannt.
 
»Organische Arbeit«
 
Kaiser Alexander II. hatte schon 1856 anlässlich seines Besuchs in Warschau zu einer Abkehr von den romantischen Träumereien geraten. Nach der Niederschlagung des Januaraufstands war eine realistischere Einstellung zu den bestehenden machtpolitischen Gegebenheiten gefragt. In der zweiten Jahrhunderthälfte meldeten sich in zunehmenden Maße Stimmen aus dem bürgerlichen Lager zu Wort. Der publizistische Verfechter des Warschauer Positivismus Aleksander Świętochowski predigte die Tugenden der »organischen Arbeit«, mithin einer Politik der kleinen Schritte. Seine Mitstreiter setzten auf eine langfristige Ausgleichspolitik und fanden sich zumindest vorläufig mit dem Verlust der Eigenstaatlichkeit ab. Die polnischen Unternehmer profitierten am meisten von den veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Sie drängten daher auf pragmatische Lösungen. Die Aufhebung der Zollschranken öffnete der polnischen Industrie seit 1870 den ungehinderten Zugang zum russischen Markt. Die sich bietenden neuen Absatzchancen nutzte insbesondere die um Lodz konzentrierte Tuchindustrie. Die Einwohnerzahl Kongresspolens verdoppelte sich innerhalb nur eines halben Jahrhunderts. Im gleichen Zeitraum erlebten die Industriestädte eine regelrechte Bevölkerungsexplosion.
 
Im preußischen Teilungsgebiet, der Provinz Posen/Westpreußen, setzte das Deutsche Reich unter dem Reichskanzler Bismarck auf Assimilation und Germanisierung. Die massenweise Aussiedlung von Polen und Juden aus den deutschen Grenzgebieten, die »Preußische Austreibung« von 1885/86, und das Ansiedlungsgesetz von 1886, das die Zuwanderung deutscher Siedler begünstigte, verschärften den lang andauernden Nationalitätenkampf.
 
Bessere Entfaltungsmöglichkeiten boten sich für die nationalkulturellen Bestrebungen der Polen im österreichischen Kronland Galizien. Die militärischen Niederlagen des Habsburgerreichs 1859 und 1866 hatten in der zweiten Jahrhunderthälfte den Weg für einen Ausgleich mit den nationalen Führungsschichten in den peripheren Kronländern geebnet. In Galizien erkaufte sich der Kaiser die Loyalität der Polen durch Zugeständnisse an die polnischen Grundbesitzer. Sie gingen einseitig zulasten der mehrheitlich ruthenischen Bauern. Agenor Romuald Graf von Gołuchowski, der zwischen 1849 und 1875 mehrfach den Posten des Gouverneurs und Statthalters in Galizien bekleidete, arbeitete erfolgreich am Ausbau eines »polnischen Piemont«. Über ihre Präsenz im Reichsrat gewannen die galizischen Polen direkten Einfluss auf die Gesamtmonarchie. Sie stellten mehrmals Ressortminister und mit Alfred Graf Potocki 1870/71 und Kasimir Felix Graf Badeni 1895 bis 1897 sogar zweimal den Ministerpräsidenten.
 
Eine Wiedergewinnung der polnischen Eigenstaatlichkeit sollte erst in der Epoche der Revolutionen und des Ersten Weltkriegs zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder in greifbare Nähe rücken. Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson hatte sich in seinen Vierzehn Punkten am 8. Januar 1918 auf ein unabhängiges Polen mit freiem Zugang zum Meer festgelegt. Nach der Novemberrevolution des Jahres 1918 in Deutschland nahmen die Polen ihr Schicksal wieder in die eigenen Hände.
 
Prof. Dr. Edgar Hösch
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Polen: Neue Staatlichkeit
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Polen (1572 bis 1795): Adelsrepublik im Schnittpunkt der Mächteinteressen
 
 
Arnold, Stanisław / Zychowski, Marian: Abriß der Geschichte Polens. Von den Anfängen des Staates bis in die neueste Zeit. Warschau 1967.
 
The Cambridge history of Poland, herausgegeben von William F. Reddaway u. a. 2 Bände. Cambridge 1950-51.
 Davies, Norman: God's playground. A history of Poland. 2 Bände. Neudruck New York 1984.
 Hellmann, Manfred: Daten der polnischen Geschichte. München 1985.
 
History of Poland, herausgegeben von Zuzanna Stefaniak. Aus dem Polnischen. Warschau 21979.
 Hoensch, Jörg K.: Geschichte Polens. Stuttgart 31998.
 Laeuen, Harald: Polnische Tragödie. Stuttgart 31958.
 Rhode, Gotthold: Geschichte Polens. Ein Überblick. Darmstadt 31980.
 Schulze Wessel, Martin: Rußlands Blick auf Preußen. Die polnische Frage in der Diplomatie und der politischen Öffentlichkeit des Zarenreiches und des Sowjetstaates 1697-1947. Stuttgart 1995.
 Zernack, Klaus: Polen und Rußland. Zwei Wege in der europäischen Geschichte. Berlin 1994.

Universal-Lexikon. 2012.

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